Wir wagen wieder mal was
In den Anfangsjahren hatte ich gehofft, dass ich durch den Einsatz modernster Maschinen mit meiner Fertigung in Deutschland bestehen könnte: automatische Zuschnittsysteme wie Cutter, Gradiersysteme zur Erstellung der Modelle, Nähautomaten. Die Lohnkosten waren zu diesem Zeitpunkt nicht das Problem, sondern nur die Möglichkeit, Arbeitskräfte zu finden. Der Standort Ilsfeld liegt im Großraum Stuttgart, Ludwigsburg, Heilbronn; es ist ein Gebiet mit vielen Betrieben der Metall- und vor allem der Automobilindustrie. Also musste gehandelt werden. Die Entscheidung fiel 1989 für Kolumbien. Was in Europa nicht bekannt ist: Die 3,5-Millionen-Stadt Medellín war ein traditioneller Standort der Textil- und Bekleidungsindustrie. Unsere ersten Lohnaufträge haben wir an eine kolumbianische Firma vergeben; es war aber bald klar, dass die von uns geforderte Qualität nur unter eigener Kontrolle möglich war. Wir haben dann 1991 durch Investitionen eine eigene Näherei gestartet. Gute Mitarbeiter zu finden war glücklicherweise kein Problem, da zu dieser Zeit die Bekleidungsindustrie in Medellín noch in gutem Zustand war. Was ich damals nicht wusste, bzw. unterschätzt hatte, betraf die politische Lage und die Kriminalität durch Drogenkartelle. Kidnapping und Bombenanschläge wurden immer häufiger, die notwendige Vorsicht zwingend. Bei einer Entscheidung aufzugeben wäre mit der eigenen Produktion und der Investition in Maschinen und Anlagen das gesamte Investment verloren gewesen.
Wir werden zu Zeugen der Zeitgeschichte
Anfang 1991 wurde bekannt, dass die kolumbianische Regierung mit dem gefährlichsten aller Drogenbosse Escobar verhandelte und ihn bewegen wollte sich zu stellen, damit er bei einer eventuellen Gefangennahme nicht an die USA ausgeliefert werden würde (was damals bestehendes
Gesetz war). Es war für jeden klar, dass dies ein Weg ohne Wiederkehr wäre. Aus Verzweiflung und in der Hoffnung, dem Morden und Töten ein Ende zu bereiten, kam es unter Führung des kolumbianischen Präsidenten Cesar Gaviria zu einer Einigung. Allerdings konnte Escobar Bedingungen
vereinbaren, die sich dann als unglaublich herausstellten. Escobar ging davon aus, dass ihm nur wenige Verbrechen bewiesen würden und er nach einigen Jahren wieder frei wäre. Präsident Gaviria und die Mehrheit der Bevölkerung waren voller Hoffnung, dass nach all den schlimmen Jahren endlich
Ruhe und Frieden eintreten würden. Ermutigt und mit viel Zuversicht in die Zukunft startete Gaviria die Öffnung und Liberalisierung des Landes, um so Wachstum und Stabilität zu fördern. Im Prinzip war
Kolumbien eine Demokratie, wurde aber, auch aufgrund vieler Verordnungen und Verbote, wegen den Risiken vom internationalen Handel gemieden. Nun wurden Einfuhrzölle gesenkt, für die Ausfuhr von Gütern und Waren Exporthilfen gezahlt und was noch wichtiger war: Man ging konsequent gegen die Korruption vor, die in den letzten Jahren riesige Ausmaße angenommen hatte. Drogenboss Escobar ging im Juni 1991 mit einigen seiner Getreuen tatsächlich ins Gefängnis: genau, dort wo er es
sich gewünscht hatte, und unter den Bedingungen und mit dem Komfort und den Freiheiten, die ihm erlaubten, seine Geschäfte ungestört weiter zu betreiben. Ein Jahr später, im Juli 1992, floh er mit seinen Männern aus dem Gefängnis – wie später bekannt wurde, ohne Probleme. Wie dies alles möglich war, ergab später eine Untersuchung: Er hatte 2/3 der Kongressabgeordneten korrumpiert.
Nach diesem Desaster gingen die Erpressungen und Entführungen weiter wie zuvor. Die Armee und Sonderkommandos der Polizei suchten mit allen Mitteln den Drogenboss zu stellen. Im Dezember 1993 gelang es, man konnte durch Ortung eines Telefongesprächs zugreifen, Escobar wurde erschossen.
Draußen die Drogenkriege, drinnen nähen wir Jeans
Was befürchtet wurde, ist dann eingetreten. Das Drogengeschäft und die Kriminalität gingen weiter, verschärft durch die jetzt entstandene Rivalität zwischen verschiedenen Gruppierungen. Andreas Pastrana, Präsident von 1998 bis 2002, unternahm einen weiteren Versuch, eine Lösung mit der FARC
zu finden. Die FARC erhielt ein autonomes Gebiet, in dem der Staat Kolumbien keine Einflussmöglichkeiten geltend machen konnte. Die Fläche entsprach etwa der Größe der Schweiz.
Das Ergebnis war, wie nicht anders zu erwarten, ein Desaster. Das Gebiet lag im Dschungel und die neuen Besitzer konnten ungestört ihr Geschäft betreiben. Es wurden Anlagen zur Kokainproduktion erbaut, es wurden Flugplätze angelegt. Und da all dies im Dschungel geschah, war die Tarnung natürlich relativ einfach möglich. Im Februar 2002 unternahm die Rechtsanwältin Ingrid Betancourt,
die Vorsitzende der Partei VerdeOxigeno, einen Versuch, mit den FARC-Anführern ein Friedensgespräch
zu führen. Sie bewarb sich um das Präsidentenamt, wurde eindringlich gewarnt und aufgefordert, dies nicht zu tun. Sie wurde von der FARC verschleppt und Jahre gefangen gehalten. Es war ein Schock, und gleichzeitig wurde klar, worauf sich die Regierung in Kolumbien eingelassen hatte. Als neuer Präsident wurde Alvaro Uribe gewählt. Er handelte umgehend konsequent. Die Armee bekam den Befehl, das gesamte FARC-Gebiet zu räumen und die FARC zu zerstören, um endlich wieder Sicherheit im Land garantieren zu können. Es wurde eine Herkulesaufgabe. Die Kämpfe fanden im Dschungel statt, für die meisten Soldaten also unter schlimmen Bedingungen, für die FARCKämpfer jedoch in gewohnter Umgebung. Der Präsident versprach alles zu tun, um die Sicherheit im Lande wieder so herzustellen, dass die Kolumbianer ohne Angst mit dem Auto von Bogota nach Medellín oder Cartagena fahren können. Dieses Versprechen hat er eingehalten. Tatsächlich sind Tausende Kolumbianer an einem Wochenende losgefahren, es war wie ein Volksfest, die Freude riesengroß.
Wir erleben Gefahren und Abenteuer
Auch wir waren erleichtert, denn das Risiko, bei Autofahrten unliebsame Überraschungen zu erleben, war nicht zu unterschätzen. Unsere Jeans mussten nach Deutschland transportiert werden: Die Container gingen per LKW nach Cartagena, dann per Schiff nach Europa. Die LKW benötigten für diese Strecke ca. 18 Stunden. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde auf speziell eingerichteten Sammelstellen
geparkt, um nicht überfallen zu werden. Der Straßenverlauf allein war schon risikoreich, denn aufgrund der Topographie führte die Straße bis auf eine Höhe von 3100 Metern, danach begann die Abfahrt auf null Meter Meeresspiegel in Cartagena. Zur Sicherheit des Transports musste als Begleitschutz vor und hinter dem LKW ein PKW mit bewaffneten Sicherheitsleuten fahren. Trotz dieser Vorkehrungen wurde einer unserer Container – er war mit Stoffen aus Deutschland beladen – überfallen. Unsere Sicherheitsleute und der Fahrer wurden verletzt, die Gangster flohen mit dem
Transportfahrzeug und wurden nicht mehr gefunden. Dabei blieb es leider nicht. Es gab noch weitere Verluste, aber glücklicherweise wurde niemand mehr verletzt. Wir investieren, bauen und bilden aus
Die Räumlichkeiten, in denen wir 1991 unsere Näherei aufgebaut hatten, entsprachen wohl dem üblichen kolumbianischen Standard, wurden aber langsam zu klein. Ich fühlte mich immer mehr in der Verantwortung, unseren Mitarbeitern etwas Besseres anzubieten – vor allem Räume, die durch eine großzügigere Aufteilung, Belüftung und Beleuchtung mehr Komfort boten und für uns eine Empfehlung darstellten. Kolumbien liegt sehr nahe am Äquator, somit herrschen dort tropische Temperaturen.
Eine sehr wichtige eigene Entscheidung war: Wir arbeiten aufgrund der Tageshitze nur in einer Schicht, und zwar von morgens 6 Uhr bis nachmittags 14 Uhr, und von Montag bis Samstag. Dies ist besonders für unsere weiblichen Angestellten sehr angenehm, denn die meisten haben kleine Kinder und sind mit dieser Arbeitszeit sehr einverstanden. Normalerweise arbeiten die kolumbianischen
Betriebe im Mehrschichtbetrieb. Eingeführt haben wir diese Regelung in der Zeit, in der Sicherheit in Medellin nicht gewährleistet werden konnte und gute Mitarbeiter gerne zu uns kamen. Dass dies für uns mehr Maschinen und damit höhere Kosten bedeutete, war natürlich klar.
1998 hatten wir schließlich unseren neu erbauten Betrieb in Medellín bezogen und mit modernsten Maschinen ausgestattet, um rationell und qualitativ produzieren zu können. Aber in Kolumbien hatte sich vieles verändert, die Jüngeren wollen nicht unbedingt ein Leben lang als Näherinnen arbeiten, und sie gaben nach einiger Zeit ihre Tätigkeit auf, um sich weiterzubilden und ihre Zukunft in „moderneren“ Berufen zu gestalten. Einige unserer Mitarbeiter sind seit Gründung des
Unternehmens bei uns. Es ist aber klar, dass wir die Entlohnung und das entsprechende Umfeld immer weiter entwickeln müssen. Es ist uns auch gelungen, in diesen Jahren Fachleute auszubilden, die in der Lage sind, mit modernsten Anlagen zu arbeiten, dazu Monteure, die mit den Maschinen und der komplizierten Elektronik vertraut sind, und nicht zu vergessen Bekleidungsspezialisten: Sie sind der Garant, dass die Produkte perfekt zur Auslieferung kommen.
Ein Unternehmen ist eine große Verpflichtung
Im Rückblick, es sind nun mehr als 30 Jahre vergangen, kann ich sagen: Es war oftmals nicht unproblematisch, aber durch konsequente Durchsetzung der Gesetze hat sich Kolumbien zu einem Staat entwickelt, in dem heute Rechtssicherheit besteht. Das bedeutet natürlich auch Kosten, Löhne und entsprechende Sozialabgaben; strenge Regelungen des Arbeitsschutzes sind klar festgeschrieben
und nicht vergleichbar mit asiatischen Ländern. Es gibt Mindestlöhne, die jährlich per Gesetz erhöht werden, außerdem bezahlen wir freiwillig höhere Löhne sowie Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, 15 Tage Urlaub und Sonderzahlungen für Urlaub und Weihnachtsgeld (insgesamt 1 Monatslohn). Außerdem müssen die Fahrtkosten zur Arbeitsstelle ersetzt werden.
Für das Unternehmen zahlen wir eine Ertragssteuer von zur Zeit 33%, eine Vermögenssteuer aus Aktiva sowie Grundsteuer, die entsprechend unserer Gewerbesteuer erhoben wird. Ich habe diese Ereignisse aufgeführt, nicht um etwas Spannendes aufzuschreiben, sondern um darzustellen wie schwierig, gefährlich und risikoreich es sein kann, eine Produktion in Entwicklungsländern aufzubauen.
In gewisser Hinsicht ist Kolumbien, bedingt durch die Drogenproblematik, ein spezieller Fall. Der Aufbau einer Produktion in einem fremden Land ist aber nie ganz einfach, einmal wegen der unterschiedlichen Mentalitäten, der schwierigste Teil jedoch sind die Gesetze, Vorschriften und oftmals sehr problematischen Auflagen – und selbstverständlich die Sprache. Dass große Unternehmen natürlicherweise personell ganz andere Möglichkeiten haben, ist für sie ganz klar ein Vorteil.